In der digitalen Welt der persönlichen Wissensmanagement-Systeme gibt es immer wieder Diskussionen, die mich zum Nachdenken bringen. Vor kurzem bin ich auf einen Artikel von Joan Westenberg gestoßen, der genau das tat: „I Deleted My Second Brain“. Ein Thema, das aufhorchen lässt, besonders für jemanden wie mich, die sich täglich mit Obsidian und persönlichem Wissensmanagement beschäftigt.
| In „I deleted my Second Brain“ beschreibt Joan die Gründe für das Löschen des Second Brains – weil es zu einem überfüllten digitalen Archiv wurde, das mehr belastete als half. Als Reaktion darauf teile ich meine Gedanken zum Informations-Horten und plädiere für einen bewussteren Mittelweg: weniger automatisiertes Sammeln, mehr gezieltes Filtern und regelmäßiges Ausmisten statt kompletter Neustart. Die wichtigste Frage sollte sein, ob wir eigene Gedanken zur Information haben – oder nur sammeln, um zu sammeln. |
Die Verlockung des digitalen Sammelns
Joan beschreibt etwas, das viele PKM-Systeme zu verfolgen scheinen:
„The premise: capture everything, forget nothing. Store your thinking in a networked archive so vast and recursive it can answer questions before you know to ask them. It promises clarity. Control. Mental leverage.“
Und ich finde: Diese Prämisse könnte falscher nicht sein. Mir ist klar, dass viele das Horten von Informationen regelrecht kultivieren. Read Later Apps, der Obsidian WebClipper oder automatisierte Synchronisationen zum Speichern von Highlights wie Readwise / Obsidian verleiten dazu, Inhalte ohne Filter zu sammeln. Aber ist das wirklich Wissensmanagement?
Mein Weg zum bewussten Filtern
Seit ich anfing, mich mit persönlichem Wissensmanagement zu beschäftigen, habe ich einiges ausprobiert und manches davon wieder aussortiert:
- Den automatisierten Workflow von Readwise nach Obsidian habe ich eingestellt.
- Die Obsidian-Zotero Integration nutze ich nur, wenn ich an einem konkreten Projekt arbeite.
- Ich nutze keine Read Later Apps mehr – und schon gar nicht speichere ich deren Inhalte in Obsidian. Selbst die Speichern-Funktion in meinem RSS-Reader oder den Obsidian WebClipper nutze ich äußerst selten.
Manchmal schicke ich mir selbst einen interessanten Link per Messenger. Und entweder habe ich dann kurzfristig das Bedürfnis, ihn anzuschauen, oder er gerät in Vergessenheit. Und das finde ich vollkommen in Ordnung.
Warum mein Wissensnetz kein zweites Wikipedia sein soll
Mein Obsidian-Vault ist für mich kein Versuch, alle Informationen der Welt zu speichern. Es ist kein zweites Wikipedia. Es ist mein digitales Zuhause, in dem ich Gedanken entwickle, vernetze und wachsen lasse.
Dafür brauche ich Filterfragen wie:
- Warum ist diese Information für mich interessant?
- Wie leicht könnte ich das bei Bedarf wieder recherchieren?
- Was sind meine eigenen Gedanken dazu?
Ein Plädoyer für „unproduktives“ Wissen
Da meine Tochter kürzlich krank war und einige Tage an mir geklebt hat, hatte ich Gelegenheit, mehrere Naturdokus anzuschauen. Ich erfuhr Spannendes über Schimpansen und Waldelefanten in Gabun, vermüllte Strände, den Schutz der Eier von Riesenschildkröten und das Auswildern von Jaguaren. Habe ich dazu Notizen gemacht? Nicht eine einzige.
Ähnlich verhält es sich mit Hörbüchern, die ich beim Autofahren oder Hausarbeiten höre. Selten halte ich inne, um mir etwas zu notieren. Wenn ich etwas so aufschreibenswürdig finde, dass ich zurückspule und mir das nochmal anhöre – prima. Wenn nicht, ist das auch völlig in Ordnung.
Ich finde, es muss durchaus Raum für „unproduktives“ Wissen geben. Natürlich wissen wir zum Zeitpunkt des Konsumierens oft noch nicht, was wir später damit anfangen werden. Daher ist der „Nutzen“ nicht das alleinige Argument beim Aufschreiben.
Das Wichtigste ist: Habe ich persönliche Gedanken dazu? Oder würde ich nur schnell ein Zitat, ein Highlight oder irgendeine Information aufschreiben, damit sie aufgeschrieben ist? Letzteres ist kein Wissensmanagement – das ist Horten. (Dazu habe ich auch schon etwas in meinem Artikel zu PKM-Mythen geschrieben.)
Die Balance zwischen Minimalismus und digitaler Messie-Wohnung
Joan schreibt auch über die Erfahrung, alte Notizen durchzusehen:
„A dusty collection of old selves, old interests, old compulsions, piled on top of each other like geological strata.“
Wenn das bei dir der Fall ist: Dann lösch das (oder, als Mittelweg: archiviere es)! Denn auch das gehört dazu: Interessen ändern sich. Wenn du weißt, dass du mit bestimmten Notizen nichts mehr anfangen kannst oder willst – weg damit!
Aber ist das Löschen eines kompletten Systems nicht irgendwie vergleichbar damit, aus meinem Haus auszuziehen und fortan im Wohnwagen zu leben, weil es mir zu unordentlich geworden ist?
Ja und nein – denn ein großes Haus verleitet zum Aufheben von Dingen, genauso wie ein System mit kleinen Hürden dazu verleitet, zu viele Informationen zu horten. Nur: In unserem digitalen Wissensnetz gibt es keine natürliche Grenze. Textdateien sind klein, und Speicher kostet kaum noch etwas.
Die Haltung macht den Unterschied
Ich glaube, entscheidend ist unsere Haltung. Und an der müssen wir immer wieder arbeiten, unsere aktuellen Praktiken hinterfragen und anpassen.
In unserem Zuhause finden wir meistens eine Balance. Vielleicht sind wir nicht immer zufrieden damit. Manchmal muss man auch radikal ausmisten und gezielt Teile wegwerfen. Ein Leben in einem minimalistischen Tiny-House ist für die meisten trotzdem nicht vorstellbar.
Wir leben im Überfluss, mit physischen Dingen und mit Informationen. Für die Balance gibt es, soweit ich das sehe, kein pauschales Allheilmittel. Wir müssen unseren Weg selbst finden. Und wenn dein Weg der Wohnwagen ist – go for it! Zieh um oder lösch alle deine Notizen. Es ist dein Leben, und du entscheidest, was für dich passt.
Ich nutze Obsidian wahnsinnig viel, aber es gibt auch viele Bereiche, die dort nicht abgebildet sind. Und das ist ok so. To-Dos habe ich zum Beispiel auch nicht (mehr) in Obsidian. Ich sehe dafür aktuell keine Notwendigkeit.
Mein aktuelles Fazit
Für mich ist klar: Ich lösche meinen Second Brain nicht – noch nicht. Aber ich versuche, ihn bewusst zu pflegen, immer mal wieder einen kritischen Blick darauf zu werfen und meine Arbeitsweise von Zeit zu Zeit auch anzupassen.
Joans Artikel ist ein wichtiger Reminder für das, was wirklich zählt, wenn wir ein Wissensnetz nutzen. Es geht nicht darum, alles zu sammeln und nichts zu vergessen. Es geht darum, ein System zu schaffen, das uns dabei hilft, unsere Gedanken zu entwickeln, zu vernetzen und zu wachsen.
Wie passt dein System gerade noch zu dir? Lass uns gemeinsam draufschauen.
